72. UN-Generalversammlung: Rede von Premierminister Charles Michel
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrter Herr Generalsekretär,
sehr geehrte Damen und Herren Staats- und Regierungschefs,
sehr geehrte Damen und Herren Delegationsleiter,
Priorität: Klima und Umwelt
Ich möchte die Opfer der letzten Wirbelstürme unserer Unterstützung versichern. Dies gilt auch für die Erdbebenopfer in Mexiko.
Diese Naturkatastrophen zerstören auf brutale Weise viele Leben und Träume. Ihnen folgen Instabilität und Unsicherheit. Vor allem klingen diese Dramen wie ein Warnschuss. Sie erinnern uns an die absolute Notwendigkeit des gemeinsamen Vorgehens gegen die Erderwärmung.
Ich begrüße im Anschluss an das Pariser Klimaabkommen die Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zum Abschluss eines echten, ehrgeizigen „Umweltpakts“.
Wir dürfen, das, was wir jetzt machen müssen, nicht länger vor uns herschieben. Zweifel sind nicht mehr erlaubt. Für zahlreiche Länder, insbesondere für die Inselstaaten im Pazifik, im Indischen Ozean und in der Karibik, stellen diese Naturphänomene eine unmittelbare Bedrohung ihres Überlebens dar.
Wir müssen unseren Kindern einen intakten, bewohnbaren Planeten in all seiner Biodiversität hinterlassen.
Wir müssen das Beste unserer verfügbaren Intelligenz, unserer Innovationsfähigkeit einsetzen, um dieser existenziellen Herausforderung zu begegnen.
Priorität: Grundfreiheiten - Rechtsstaat – Würde
Wir wollen eine bessere Welt. Es gilt, unermüdlich für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung und gegen jegliche Form der Diskriminierung einzutreten, ungeachtet der Religion, der Kultur, der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung. Es gilt, die universellen Grundfreiheiten zu fördern.
Will man das Beste für sein Land und seine Einwohner, dürfen Presse- und Meinungsfreiheit nicht in Frage gestellt werden.
Viel zu oft werden Wahlen manipuliert, wird die Justiz missbraucht, besteht eine organisierte Undurchsichtigkeit und es herrscht eine allgemeine Korruption.
Die nationalen und internationalen Einrichtungen müssen die persönlichen Grundfreiheiten garantieren und kontinuierlich um mehr Emanzipation, um mehr Würde für jeden Einzelnen bemüht sein.
Die Souveränität muss stets respektiert werden. Doch darf sie weder Vorwand noch Entschuldigung für Machtmissbrauch und Unterdrückung sein.
Es geht nicht darum, Lehren in Fragen der Moral zu erteilen. Ebenso wenig darum, ein bestimmtes „schlüsselfertiges“ Demokratiemodell durchsetzen oder einführen zu wollen.
Es geht darum, überzeugen zu können.
Es gilt, dank eines konstanten und unermüdlichen Dialogs die universellen Werte ohne jede Selbstgefälligkeit zu verteidigen. Für jeden Menschen. Egal woher er kommt, egal wohin er will.
Nie und nirgends kam der Abbruch diplomatischer Beziehungen je den universellen Werten zugute. Es ist feige, den Dialog einzustellen und damit diejenigen, die für mehr Freiheit in ihrem Land kämpfen, sich selbst zu überlassen.
Priorität- Sicherheit
Wir wollen eine sicherere Welt. Frieden, Sicherheit und Stabilität sind die besten Garanten dafür, dass jeder Herr seines eigenen Lebens ist: essen und arbeiten können, eine Wohnung haben, die Kinder zur Schule schicken können ... Zu viele Konflikte und Kriege, zu viel Hass vergiften heutzutage noch die Träume und Hoffnungen der Menschen.
Alle Kontinente sind von der Geißel des Terrorismus betroffen.
Den Hass zu nähren, mit dem Gift der Spaltung zu infizieren, das ist das makabre Ziel der Terroristen.
Blindwütige, barbarische Morde, um das Leben der Opfer und ihrer Angehörigen zu zerstören. Niemanden kann dies gleichgültig lassen.
Mein Land beteiligt sich an der internationalen Koalition. Das Militär zwingt Daesh im Irak und Syrien zum Rückzug. Wir haben uns verpflichtet, den zerstörten Ländern beim Wiederaufbau zu helfen.
Wir müssen die Schlacht um die universellen Werte gewinnen. Unsere Werte der Freiheit, der Toleranz, die Nicht-Diskriminierung sind stärker. Der Wille, gemeinsam zu leben in Achtung unserer Differenzen, unserer Kulturen und Gebräuche muss den Sieg davontragen.
Ich möchte an dieser Stelle Gandhi zitieren, dessen Worte erschreckend zutreffend und von großer Aktualität sind: „Setzt man dem Hass Hass entgegen, so breitet er sich nur noch weiter aus“.
Eine andere schwere Bedrohung der weltweiten Sicherheit stellt die unkontrollierte Weiterverbreitung von Waffen, vor allem von Nuklearwaffen dar. Die Welt ist in Aufruhr. Die Konfliktzonen sind zahlreich: Libyen, Syrien, Irak, Jemen und die Ukraine, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Die dauerhaftesten und für alle Beteiligten profitabelsten Lösungen sind seit jeher politischer und diplomatischer und nicht militärischer Natur.
Das nach jahrelangen Verhandlungen mit dem Iran zustande gekommene Atomabkommen muss eingehalten und umgesetzt werden.
Mein Land hat substanzielle Differenzen mit dem Iran. Dennoch, dieses Abkommen macht den Weg frei zum Dialog, zum Abbau der Spannungen und damit auch der Bedrohung.
Dieses Abkommen ist die Gelegenheit sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen und unsere Meinungsverschiedenheiten auf friedlichem Wege zu klären.
Ein solches Abkommen vom Tisch zu wischen, ohne eine Alternative anzubieten, erscheint uns weder klug, noch wünschenswert.
Die Situation in Nordkorea ist ebenfalls ein warnendes Beispiel. Anders als beim Iran gab es hier keinen kontinuierlichen Dialog bzw. keine durchgängigen Verhandlungen. Ergebnis? Eine verhängnisvolle Eskalation, die zu einer Bedrohung von Frieden und Sicherheit geworden ist.
Wir verurteilen ein autokratisches und provokatorisches Regime. Dennoch, eine Verurteilung reicht nicht aus.
Wir müssen uns bemühen, einen Gesprächsfaden herzustellen, auch, indem wir an das Verantwortungsbewusstsein von Staaten wie China oder Russland appellieren.
Priorität : Wohlstand
Die wirtschaftliche Entwicklung muss im Dienste des sozialen Zusammenhalts stehen. Wachstumsraten, auch wenn sie zweistellig sind, sind kein automatischer Garant für eine gerechte und ausgewogene Umverteilung des geschaffenen Wohlstands.
Der Kapitalismus ist nicht mehr und nicht weniger als ein Mittel im Dienste des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts. Wir unterstützen den Freihandel und eine offene Weltwirtschaft.
Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kenntnissen muss der Entwicklung und einem gerechter verteilten Fortschritt dienen.
Es gibt keine nachhaltige Entwicklung ohne Entwicklung. Die Ausrottung der Armut geht nicht ohne ein Mehr an Wohlstand.
Die unternehmerische Freiheit muss sich der realen Wirtschaft, der Herstellung von Gütern und der Erbringung von Dienstleistungen sowie der Schaffung von Arbeitsplätzen zuwenden. Wir müssen die Stärkung des Mittelstands fördern.
Wir dürfen es nicht zulassen, dass sich das Gesetz des Stärkeren, also das Gesetz des Dschungels, durchsetzt. Es gilt, besser zwischen Investitionen und Spekulantentum zu unterscheiden.
Im Gegensatz zur Finanzspekulation stellen Investitionen einen verantwortungsvollen, förderungswürdigen Akt dar, der der gesamten Gesellschaft zugute kommt, der Innovation und Fortschritt stimuliert.
Freizügigkeit und Freihandel führen Menschen zusammen. Diese Grundsätze standen bereits in den 60er Jahren im Mittelpunkt des europäischen Projekts.
Die Europäische Union handelt mit mehreren Partnern, wie Kanada und Japan, Abkommen aus. Diese Abkommen enthalten sozial- und umweltrechtliche Regularien. Diese Weltoffenheit bildet im Zusammenspiel mit den Regularien eine starke Antwort auf Isolationismus und Protektionismus.
Die Geschichte hat es gezeigt. Schranken und Mauern zwischen Menschen sind eine nicht überlebensfähige Illusion. Sie werden niemals dem Willen nach Freiheit, nach Öffnung und Innovation widerstehen.
Die Agenda 2030 stellt einen ehrgeizigen Rahmen zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele dar.
Die Förderung von Privatinitiativen, die Stärkung des Rechtsstaats, die Förderung der Ausbildung von Jungen und Mädchen, die Förderung der Landwirtschaft, verantwortungsvolles staatliches Handeln ...
Das sind die besten Rezepte, um Konflikte zu vermeiden und eine bessere, gerechtere und stabilere Welt aufzubauen.
Priorität : Migration
Länder des Südens und des Nordens sind gleichermaßen von der Migration betroffen.
Unser Land bietet Menschen, die Asyl suchen und die vor Krieg und Verfolgung fliehen, Aufnahme.
Und wir bekämpfen die Schlepper, die ohne jeden Glauben und Moral Frauen und Kinder in untaugliche Boote stecken, deren Überfahrt allzu häufig in einem Drama endet.
Wir müssen uns auf die Seite derer, die leiden, stellen. Der Schlüssel ist der Entwicklungsstand der Herkunftsländer.
Wir müssen in die am wenigsten entwickelten Länder investieren.
Wir müssen zielstrebig auf einen weltweiten Pakt hinarbeiten, der ab 2018 eine sichere, geordnete und geregelte Migration gewährleistet. Wir befürworten einen globalen Ansatz, der eine legale Migration erlaubt und der die Wiederaufnahme unter Schutz der persönlichen Sicherheit der Personen in den Herkunftsländern erlaubt.
Methode: Mehr Multilateralismus
Der Multilateralismus ist ein robuster, zuverlässiger Motor für den Aufbau einer besseren Welt.
Kooperation und Konsensfindung sind unverzichtbar.
Das Wesen der Vereinten Nationen selbst wird gelegentlich in Frage gestellt.
Die Globalisierung schafft Zweifel, schafft Ängste.
Allerdings ist nicht der Multilateralismus die Ursache all dieser Umbrüche...
Vielmehr ist er der wichtigste Faktor zu einer Lösung.
Wir müssen unsere Unabhängigkeit respektieren. Wir müssen aber auch unsere gegenseitige Abhängigkeit anerkennen und die Vorzüge einer konzertierten Aktion bejahen.
Wir müssen zu einem Konsens gelangen, in dem jedes Land, egal ob klein oder groß, seine Rolle zu spielen und ein Wort mitzureden hat.
Belgien steht voll und ganz hinter der Vision des Generalsekretärs für eine Reform unserer Organisation.
Nicht, weil die Reform ein Ziel an sich ist. Sondern weil die Welt von heute ein entschlosseneres, ergebnisorientierteres Handeln erfordert.
Der Multilateralismus ist ein komplexes Anliegen. Gelegentlich stehen wir vor Hürden, sind wir frustriert. Allerdings ist von den Erfolgen viel zu selten die Rede.
In Kolumbien beispielsweise konnte dank der konzertierten Aktion mit einem entschlossenen Staatschef, der Region und den UN-Organisationen einer der ältesten Konflikte der Erde beigelegt werden.
Der Multilateralismus erfordert einen globalen, inklusiven und auf Dauer angelegten Ansatz.
Zur Konfliktvermeidung, Konfliktlösung und Stärkung des Friedens braucht es Kontinuität.
Die belgische Beteiligung an der Friedensmission MINUSMA hat uns die Vorzüge eines globalen, inklusiven 3-D-Ansatzes vor Augen geführt: Diplomacy, Defense and Development[i] mit dem Ziel eines dauerhaften Friedens.
Auch die internationale und regionale Konzertierung muss ausgebaut werden.
Wenn die regionalen Akteure vor Ort und die Vereinten Nationen dasselbe Ziel verfolgen und dabei kooperieren, lassen sich bemerkenswerte Fortschritte erzielen.
Ich denke beispielsweise an Gambia oder den Sahel mit den Streitkräften der G5-Gruppe.
Auch in Zentralafrika, in der Region der Großen Seen, kommt den Regionalmächten eine entscheidende Rolle zu.
In der Demokratischen Republik Kongo hat sich die Sicherheitslage erheblich verschlechtert und die humanitäre Krise ist inzwischen besorgniserregend.
Zu einer Zeit, wo die Kosten der friedenserhaltenden Maßnahmen zur Debatte stehen, dürfen wir das Land nicht fallen lassen. Im Gegenteil, wir müssen ihm dabei helfen, einen unumkehrbaren demokratischen Prozess in Gang zu setzen und dabei vor allem ehrliche, transparente und inklusive Wahlen unterstützen.
Die Schicksale Afrikas und Europas sind miteinander verbunden. Die Herausforderungen des einen sind die Herausforderungen des anderen. Uns muss es gelingen, unvoreingenommene, gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen, die Dämonen der Vergangenheit hinter uns zu lassen und die Zukunft fest ins Auge zu fassen.
Im Nahen Osten plädieren wir auch weiterhin für die Zweistaatenlösung mit Israel und Palästina.
Was Syrien und diesen nicht enden wollenden Konflikt anbelangt, so ist eine Lösung erst dann möglich, wenn die gesamte internationale Gemeinschaft hierzu den politischen Willen aufbringt und eine gemeinsame Strategie verfolgt.
Die Bekämpfung der Straflosigkeit von Verbrechen und die Stärkung der internationalen Justiz stehen im Zentrum der Prioritäten Belgiens. Dieses Jahr haben wir eine revidierte Fassung der Änderungsanträge zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vorgelegt. Gegenstand dieser Änderung ist das Verbot von vier Waffentypen, deren gemeinsames Merkmal die Herbeiführung unvorstellbarer Qualen und die wahllose Tötung von Menschen ist.
Wir wollen die Kooperation zwischen den Staaten fördern, um die Straflosigkeit schwerster, internationaler Verbrechen zu bekämpfen.
In diesem Rahmen fordern wir alle Staaten auf, die dies noch nicht gemacht haben, der Initiative zur Vereinbarung eines neuen Rechtshilfe-und Auslieferungsabkommens beizutreten, dessen Ziel es ist, auf nationaler Ebene Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gezielter ahnden zu können.
Unsere Zielsetzung für die Vereinten Nationen muss darin bestehen, tagein, tagaus die Effizienz der Organisation und ihrer Arbeit im gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten zu mehren. Schlüssel zum Erfolg hierfür ist, einander aktiv zuzuhören, Kompromisse zu entwickeln und diese dann auch ratifizieren zu lassen.
Dank einer transparenten und konstruktiven Grundhaltung gelangt mein Land zu Ergebnissen, die allen zugutekommen. Belgien ist das Land, wo der Kompromiss zu Hause ist!
In diesem Geiste sind wir Kandidat für einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat.
Im Hinblick auf unsere internationale Verankerung und die entsprechenden Erfahrungen sind wir bereit, diese Verantwortung zu übernehmen.
Konsens schaffen, im Dienste des Friedens handeln.
Wie schrie doch Jean Jacques Rousseau, „Der Mensch erlangt sein Glück nur, indem er am Glück der anderen mitarbeitet“.
Wir sind bereit, daran mitzuarbeiten.
Ich danke Ihnen.